Am 15. März 2022 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (https://t.me/RA_Ludwig/5356) absolute Demonstrationsverbote – auch am unsicheren Beginn einer Pandemie – für menschenrechtswidrig erklärt.
Das ist umso bedeutender, als der Gerichtshof pauschale Demonstrationsverbote nicht einmal in einer Krise mit unklarer Erkenntnislage zulässt.
- Regierungen hatten keine belastbaren Daten
„Der Gerichtshof erkennt in der vorliegenden Rechtssache an, dass die von COVID-19 ausgehende Bedrohung der öffentlichen Gesundheit sehr ernst war und dass die Kenntnisse über die Merkmale und die Gefährlichkeit des Virus zu Beginn der Pandemie sehr begrenzt waren; daher mussten die Staaten im fraglichen Zeitraum rasch reagieren.“
- Lebensschutz ist ein hohes Gut
„Er berücksichtigte auch die konkurrierenden Interessen, die unter den sehr komplexen Umständen der Pandemie auf dem Spiel standen, und insbesondere die positive Verpflichtung der Vertragsstaaten der Konvention, das Leben und die Gesundheit der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen zu schützen.“
- Absolute Verbote bedürfen einer besonders intensiven Prüfung durch die Gerichte
„Der Gerichtshof vertrat die Auffassung, dass das völlige Verbot einer bestimmten Verhaltensweise eine einschneidende Maßnahme darstellt, die einer stichhaltigen Begründung bedarf und eine besonders sorgfältige Prüfung durch die zur Interessenabwägung befugten Gerichte erfordert. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bedürfe eine solche pauschale Maßnahme zwingender Rechtfertigungsgründe und einer besonders sorgfältigen Prüfung durch die zur Interessenabwägung befugten Gerichte.“
- Eine solche Prüfung wurde nicht vorgenommen
„Die vom Gerichtshof geforderte Abwägung zwischen den konkurrierenden Interessen, die auf dem Spiel stehen, um die Verhältnismäßigkeit einer solch drastischen Maßnahme zu beurteilen, wurde nicht vorgenommen. Dies sei insbesondere im Hinblick auf die Konvention bedenklich, da das pauschale Verbot über einen längeren Zeitraum in Kraft geblieben sei.“
- Bei Dringlichkeit von Maßnahmen – besonders intensive Prüfung durch die Gerichte
„Angesichts der Dringlichkeit, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um der beispiellosen Bedrohung durch COVID-19 in der Anfangsphase der Pandemie zu begegnen, nicht unbedingt zu erwarten war, dass vor der Verabschiedung der als notwendig erachteten Dringlichkeitsmaßnahmen sehr ausführliche Diskussionen auf nationaler Ebene und insbesondere unter Einbeziehung des Parlaments stattfinden würden. Unter diesen Umständen sei eine unabhängige und wirksame gerichtliche Kontrolle der von der Exekutive getroffenen Maßnahmen jedoch umso wichtiger.“
- Die Verhängung von Saktionen braucht besonders triftige Gründe
„Die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen muss durch besonders triftige Gründe gerechtfertigt sein. Die Organisation einer friedlichen Versammlung soll normalerweise nicht die Gefahr solcher Sanktionen mit sich bringe.“
- Keine Abschreckung durch Strafandrohung
„Nach Ansicht des Gerichtshofs handelt es sich bei den angedrohten Sanktionen um sehr harte Strafen, die potenzielle Teilnehmer oder Gruppen, die solche Veranstaltungen organisieren wollen, abschrecken können.
- Kein Rückgriff auf den Notstand
Schließlich betonte der Gerichtshof, dass die Schweiz angesichts der weltweiten Krise im Bereich der öffentlichen Gesundheit nicht auf Artikel 15 der Konvention zurückgreifen konnte, der es einem Vertragsstaat erlaubt, in Kriegszeiten oder bei einem anderen öffentlichen Notstand, der das Leben der Nation bedroht, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen, die von den Verpflichtungen der Konvention abweichen.“
- Verhältnismäßigkeit
„Der Gerichtshof verkennt zwar keineswegs die von COVID-19 ausgehende Bedrohung für die Gesellschaft und die öffentliche Gesundheit, ist aber angesichts der Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft des pauschalen Charakters und der beträchtlichen Dauer des Verbots öffentlicher
Veranstaltungen, die in den Tätigkeitsbereich der Vereinigung fallen, sowie der Art und Schwere der möglichen Strafen der Auffassung, dass der Eingriff in die Ausübung der durch Artikel 11 geschützten Rechte nicht in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten Zwecken steht.“
- Gerichte hätten Wirksamkeit der Maßnahmen überprüfen müssen
„Außerdem hätten die inländischen Gerichte keine wirksame Überprüfung der beanstandeten Maßnahmen durchgeführt. Damit habe die Schweiz den ihr im vorliegenden Fall eingeräumten Ermessensspielraum überschritten. Folglich sei der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft im Sinne von Artikel 11 der Konvention nicht notwendig gewesen.“
Quelle: https://t.me/RA_Ludwig/5353